Der besorgniserregende Trend, Suizide durch im Internet bestellte „Suicide Kits“ mit Natriumnitrit zu begehen, ist leider aus den USA nach Europa und mittlerweile auch vermehrt nach Deutschland übergeschwappt.1–4
Natriumnitrit ist ein ausgeprägter Met-Hb-Bildner, weshalb es therapeutisch in niedriger Konzentration bei der Cyanid-Intoxikation als Antidot eingesetzt wird. Auch in Pökelsalz ist es in niedriger Dosierung vorhanden und harmlos. Bei hoher Dosierung wird jedoch so viel Met-Hb gebildet, dass nicht mehr ausreichend Hämoglobin zum Sauerstofftransport zur Verfügung steht und es wegen der nicht mehr sichergestellten Sauerstoffversorgung des Körpers zum „innerlichen Ersticken“ kommt. Während akzidentelle Vergiftungen früher die häufigsten Ursachen für Met-Hb-Vergiftungen waren, kam es ab 2019 in den USA zur Verbreitung von Natriumnitrit als Suizidmittel.1
Dabei wird Natriumnitrit im Internet1 und sogar in mancher Literatur5 als möglicherweise „perfektes“ Tötungsmittel beschrieben, da es aussieht und schmeckt wie Kochsalz, billig und (mittlerweile Gott sei Dank nicht mehr ganz so) frei zu erwerben ist.
Internetquellen, geben hier sogar genau an, wie Natriumnitrit zum Suizid einzunehmen und zu besorgen ist und sogar, welche Medikamente gegen die resultierende Übelkeit genommen werden sollten.1,6
Wahrscheinlich verläuft der eigentliche Sterbeprozess jedoch – ungleich den Beschreibungen in den Internetquellen – alles andere als angenehm. Denn bei einer langsam steigenden Met-Hb-Konzentration über einige Minuten mit zunehmender zellulärer Hypoxie und Reanimationspflichtigkeit meist erst nach mehr als etwa 30 Minuten,1 muss von einem sehr bewussten und qualvollen Sterbeprozess ausgegangen werden.
Aufgrund der zunehmenden Fallzahl wollen wir nun über die Behandlung dieser Patienten informieren. Dabei liegt unser Fokus auf Natriumnitrit, wir werden jedoch auch durch andere Substanzen ausgelöste Methämoglobinämien besprechen, da das Management identisch ist.
Auslösende Substanzen und Wirkmechanismus
Neben Natriumnitrit bewirken auch weitere Nitrate und Nitrite und andere Toxine eine Met-Hb-Bildung.
Typische Substanzen sind hier die zum Beispiel bei ChemSex-Parties (häufiger in der MSM-Szene) konsumierten Poppers, die z.B. Amylnitrit enthalten.7
Auch Lokalanästhetika wie Benzocain in Pastillen oder Lösungen gegen Hals- oder Zahnschmerzen oder Prilocain (hier auch verzögert 1-3h nach Anwendung) und Lidocain können eine lebensgefährliche Methämoglobinämie auslösen.8 Seltener werden Substanzen wie Chloroquin, Hydroxychloroquin, Kupfersulfat und zahlreiche andere genannt.9
Die orale Bioverfügbarkeit von Nitrit (auch Natriumnitrit) ist sehr hoch (98%) und auch Nitrate werden im Darm von Bakterien in Nitrit umgewandelt und können so eine Met-Hb-Bildung auslösen.5,10
Da Nitrate in vielen Gemüsen (z.B. Spinat) vorkommen, hat der Körper diverse Enzyme (v.a. wichtig die NADH-Met-Hb-Reduktase) um das Fe3+ in Met-Hb wieder zu Fe2+ zu reduzieren. Erst, wenn diese überlastet werden, kommt es zu einer klinisch relevanten Met-Hb-Bildung, bei der das zu Fe3+ oxidierte Fe2+ nicht ausreichend zurückgebildet werden kann. Das Fe3+ beinhaltende Met-Hb kann keinen Sauerstoff transportieren, wodurch bei ausgeprägten Methämoglobinhämien eine Gewebehypoxie entsteht..8,9
Symptome und Risikoabschätzung
Initial führen Vergiftungen mit Natriumnitrit häufig zu Übelkeit und Erbrechen.
Im Verlauf kommt es schon ab einem Met-Hb-Anteil von etwa 10-20% zu einer ausgeprägten Zyanose – zu einer klinisch vergleichbaren Zyanose durch Desoxyhämoglobin käme es erst ab einem Anteil von etwa 33%.9 Methämoglobin interferiert mit der SpO2-Messung, sodass die Geräte hier meist falsche SpO2-Werte, oft um 85%, aber teils auch darunter messen.1,9,11
Das Blut hat dabei eine auffällige braune Farbe:
Mit zunehmendem Met-Hb-Anteil sinkt die Oxygenierung des Gewebes und ab etwa 20-30% Met-Hb-anteil kommt zu verstärkten Symptomen der Hypoxie wie Schwindel, Kopfschmerzen, Schwäche, Tachykardie, zunehmender Verwirrung und Vigilanzminderung und ab etwa 50% Met-Hb auch zu Koma und Krampfanfällen, bevor es zum Herz-Kreislaufstillstand kommt.
Die Symptome können bei Personen mit Herzinsuffizenz oder chronischen Lungenerkrankungen, also mit bereits a priori beeinträchtiger Oxygenierung und beeingeträchtigen Kompensationsmechanismen auch schon früher auftreten.
Bei Einnahme von Nitriten und Nitraten kommt es zudem häufig durch den Abbau dieser zu NO auch zu einer deutlichen Vasodilatation mit vasoplegischem Schock.12
Die letale Dosis von Natriumnitrit liegt geschätzt bei 0,7-6g Nitritanteil,2 jedoch wurden auch Dosen von 60g in Fallberichten überlebt.1
Hin und wieder wird bei Intoxikationen mit Met-Hb-Bildnern auch eine Hämolyse beobachtet.9
Management
Der wichtigste Schritt ist, eine mögliche Methämoglobinämie überhaupt zu erkennen. In der Notaufnahme oder auf der Intensivstation gelingt dies leicht durch das Messen des Met-Hb-Anteils in der BGA. Präklinisch können die ausgeprägte Zyanose und braunes Blut bei der Anlage des Zugangs sowie eine Hypoxie, die auf O2-Gabe nicht reagiert, und das Umfeld an der Einsatzstelle hinweisend sein.
Die supportive Therapie besteht in der Oxygenierung mit 100% inspiratorischer Sauerstoffkonzentration, je nach Vigilanzzustand durch invasive oder nicht-invasive Beatmung und bei Hypotonie ggf. Katecholamingabe.
Eine Giftelimination mittels Aktivkohle ergibt fast nie Sinn, da fast alle Met-Hb-Bildner rasch resorbiert werden.
Als spezifische und wichtige Therapie erfolgt die Gabe eines Antidots, nämlich von Methylenblau oder Toluidinblau (Tolniumchlorid), welches meist innerhalb von wenigen Minuten bis maximal 30 Minuten eine deutliche Symptomverbesserung bewirkt.1 Die Indikation wird in der Regel beim symptomatischen Patienten mit Met-Hb-Anteilen von >20-30% gesehen.9
Gegeben wird Methylenblau über 5 Minuten in einer Dosierung von 1-2 mg/kg. Geliefert wird es in 1% Lösung in 10ml-Ampullen (1 Ampulle=100mg). Um den Injektionsschmerz zu lindern, kann Methylenblau mit 50ml Glucose 5% verdünnt und über 5 Minuten injiziert werden. Eine Verdünnung mit NaCl 0,9% sollte vermieden werden, da dies die Löslichkeit reduzieren kann.9
Häufig reichen Dosen von 1-2 mg/kg Methylenblau auch bei schwersten Vergiftungen aus (z.B. überlebten zwei Patienten mit initialem Met-Hb-Anteil von knapp 92,5% nach Gabe von jeweils insgesamt 2mg/kg Methylenblau13,14). Es wurde aber auch ein Fall berichtet, in welchem es trotz initialem Met-Hb-Anteil von „nur“ 62% erst nach Gabe einer kumulativen Dosis von 6mg/kg Methylenblau zu einer ausreichenden Reduktion des Met-Hb-Anteils kam.1
Insofern würden wir beim wachen und ansprechbaren Patienten eine Initialdosis von 1mg/kg Methylenblau vorschlagen. Beim vigilanzgeminderten, schockigen Patienten oder bei einem gemessenen Met-Hb-Anteil von >40-50% würden wir jedoch direkt 2mg/kgKG als initialen Bolus geben. Anschließend gibt man je nach Met-Hb-Verlauf nach etwa 30 Minuten eine erneute Dosis.
Dabei wird die Tagesdosis meist mit maximal 7mg/kg/d angegeben. Wie Price darstellt, sind auch höhere Dosen bei vitaler Indikation möglich, jedoch nur im Ausnahmefall nötig. Methylenblau scheint zudem embryotoxisch zu sein, sodass die Gabe in der Schwangerschaft einer besonders engen Nutzen-Risiko-Abwägung unterliegt.9
Methylenblau reduziert Methämoglobin zu Hämoglobin, nachdem es selber durch die Methämoglobin-Reduktase unter Umsatz von NADPH zu Leukomethylenblau reduziert wurde. Bei Patienten mit G6PD-Mangel ist Methylenblau deshalb zum Teil nicht wirksam, sollte jedoch dennoch gegeben werden, da es nur bei einigen Formen des G6PD-Mangels unwirksam zu bleiben scheint.8,9
Ein Nebeneffekt von Methylenblau, der v.a. bei Nitritvergiftungen hilfreich zum Tragen kommt, ist, dass es unter anderem die NO-Synthase hemmt und dadurch eine Vasokonstriktion macht.15
Als weitere Nebenwirkung kann es zu Zyanose und Blauverfäbung des Urins sowie zu Injektionsschmerzen kommen. Auch Übelkeit und Erbrechen sowie eine Hämolyse sind möglich.
In Deutschland wurde statt Methylenblau, welches lange aus USA eingeführt werden musste, in der Regel Toluidinblau vorgehalten, welches international jedoch nicht eingesetzt wird. Toluidinblau ist auch Teil der Bremer Liste, weshalb wir trotz rückläufiger Nutzung hier noch kurz darauf eingehen möchten.16
Die Dosierung von Toluidinblau beträgt initial 2-4 mg/kg. Der Wirkmechanismus ist gleich dem Methylenblau. Ältere Versuche legten nahe, dass Toluidinblau effektiver ist und weniger Nebenwirkungen hervorruft,17 es gab jedoch in den 2000er Jahren Fallberichte von kardiovaskulärem Versagen, in der Regel aufgrund von Herzrhythmusstörungen, sodass hier vielleicht doch ein schlechteres Nebenwirkungsprofil als bei Methylenblau besteht.18
Bei der Nutzung von Toludinblau als Antidot würden wir die Indikation entsprechend beim wachen, stabilen Patienten eng stellen und mit einer niedrigen 1-2mg/kg Initialdosis starten. Beim kritischen Patienten (s.o.) würden wir dennoch weiter 4mg/kg Initialbolus geben, um eine rasche und ausreichende Wirkung zu erzielen. Toluidinblau kann dabei laut Fachinformation unverdünnt oder in Verdünnung mit NaCl 0,9% gegeben werden.
Alternativ kann noch die Austauschtranfusion (oder erstmal Gabe von z.B. 2 Erythrozytenkonzentraten) und hyperbare Oxygenierung angewandt werden.9,13 Diese sind jedoch nur in Ausnahmefällen notwendig, da die Methylenblau- bzw. Toluidinblau-Wirkung meist ausreichend ist.
Zusammenfassung
- Vergiftungen mit Met-Hb-Bildnern, insbesondere Natriumnitrit, in suizidaler Absicht sind in der Fallzahl zunehmend
- Eine kritische Menge Met-Hb sollte bei niedriger SpO2 (70-90%, häufig um 85%), fehlender Besserung trotz O2-Gabe und braunem Blut bedacht werden
- Neben Natriumnitrit sind typische Auslöser einer Methämoglobinämie der Konsum von inhalativen Nitriten („Poppers“ wie Amylnitrit, z. B. in der MSM- und ChemSex-Szene) sowie Lokalanästhetika, typischerweise Benzocain gegen Hals- oder Zahnschmerzen
- Die Therapie besteht supportiv in der Oxygenierung mit 100% Sauerstoff und Katecholamingabe bei Kreislaufschock
- Als Antidot wird bei deutlichen Symptomen und einem Met-Hb-Anteil von etwa > 20-30% Methylenblau 1-2mg/kgKG initialer Bolus über 5 Minuten oder Toluidinblau 2-4mg/kg initialer Bolus über 5 Minuten eingesetzt
- Hiernach kommt es häufig innerhalb weniger Minuten bis ( max.) 30 Minuten zu einer deutlichen Symptombesserung. Ansonsten kann die erneute Antidotgabe erfolgen
Das Vorgehen stichpunktartig zusammengefasst findet ihr auch als Pocket Card zum Download hier.
Wenn euch dieser Artikel gefallen hat, ihr etwas vermisst oder Themenwünsche für weitere Artikel habt, schreibt uns an christoph [at] toxdocs.de Wir freuen uns über euer Feedback! Bei Facebook und in unserem RSS-Feed werdet ihr über neue Posts auf dem laufenden gehalten.
Quellen
1. Mudan A, Repplinger D, Lebin J, Lewis J, Vohra R, Smollin C. Severe Methemoglobinemia and Death From Intentional Sodium Nitrite Ingestions. The Journal of Emergency Medicine. 2020;59(3):e85-e88. doi:10.1016/j.jemermed.2020.06.031
2. McCann SD, Tweet MS, Wahl MS. Rising incidence and high mortality in intentional sodium nitrite exposures reported to US poison centers. Clinical Toxicology. 2021;59(12):1264-1269. doi:10.1080/15563650.2021.1905162
3. McCann SD, Kennedy JM, Tweet MS, Bryant SM. Sodium Nitrite Ingestion: an Emerging Trend in Suicide Attempts Shared via Online Communities. Journal of Emergency Medicine. 2021;60(3):409-412. doi:10.1016/j.jemermed.2020.10.021
4. Vodovar D, Tournoud C, Boltz P, Paradis C, Puskarczyk E. Severe intentional sodium nitrite poisoning is also being seen in France. Clinical Toxicology. 2022;60(2):272-274. doi:10.1080/15563650.2021.1919695
5. Dean DE, Looman KB, Topmiller RG. Fatal methemoglobinemia in three suicidal sodium nitrite poisonings. Journal of Forensic Sciences. 2021;66(4):1570-1576. doi:10.1111/1556-4029.14689
6. Durão C, Pedrosa F, Dinis-Oliveira RJ. A fatal case by a suicide kit containing sodium nitrite ordered on the internet. Journal of Forensic and Legal Medicine. 2020;73:101989. doi:10.1016/j.jflm.2020.101989
7. Edwards RJ, Ujma J. Extreme methaemoglobinaemia secondary to recreational use of amyl nitrite. Emergency Medicine Journal. 1995;12(2):138-142. doi:10.1136/emj.12.2.138
8. Taleb M, Ashraf Z, Valavoor S, Tinkel J. Evaluation and Management of Acquired Methemoglobinemia Associated with Topical Benzocaine Use. Am J Cardiovasc Drugs. 2013;13(5):325-330. doi:10.1007/s40256-013-0027-2
9. Price DP. Methemoglobin inducers. In: Goldfrank LR, Nelson LS, Howland MA, Lewin NA, Smith SW, Hoffmann RS. Goldfrank’s Toxicologic Emergencies, Eleventh Edition. Eleventh Edition. McGraw-Hill:1703-1712
10. Hunault CC, van Velzen AG, Sips AJAM, Schothorst RC, Meulenbelt J. Bioavailability of sodium nitrite from an aqueous solution in healthy adults. Toxicology Letters. 2009;190(1):48-53. doi:10.1016/j.toxlet.2009.06.865
11. Neth MR, Love JS, Horowitz BZ, Shertz MD, Sahni R, Daya MR. Fatal Sodium Nitrite Poisoning: Key Considerations for Prehospital Providers. Prehospital Emergency Care. 2021;25(6):844-850. doi:10.1080/10903127.2020.1838009
12. Cosby K, Partovi KS, Crawford JH, et al. Nitrite reduction to nitric oxide by deoxyhemoglobin vasodilates the human circulation. Nat Med. 2003;9(12):1498-1505. doi:10.1038/nm954
13. Dela Cruz M, Glick J, Merker SH, Vearrier D. Survival after severe methemoglobinemia secondary to sodium nitrate ingestion. Toxicology Communications. 2018;2(1):21-23. doi:10.1080/24734306.2018.1467532
14. Katabami K, Hayakawa M, Gando S. Severe Methemoglobinemia due to Sodium Nitrite Poisoning. Case Reports in Emergency Medicine. 2016;2016:e9013816. doi:10.1155/2016/9013816
15. Buckley MS, Barletta JF, Smithburger PL, Radosevich JJ, Kane-Gill SL. Catecholamine Vasopressor Support Sparing Strategies in Vasodilatory Shock. Pharmacotherapy: The Journal of Human Pharmacology and Drug Therapy. 2019;39(3):382-398. doi:10.1002/phar.2199
16. Schaper A, Bandemer G, Callies A, et al. Vorhaltung von Antidota im Notarztdienst. NOTARZT. 2012;28(3):114-118. doi:10.1055/s-0032-1304841
17. Kiese M, Lörcher W, Weger N, Zierer A. Comparative studies on the effects of toluidine blue and methylene blue on the reduction of ferrihaemoglobin in man and dog. Eur J Clin Pharmacol. 1972;4(2):115-118. doi:10.1007/BF00562507
18. Radke OC, Hoffmann C, Klut I, Koch T. Kammerflimmern nach Toluidinblau. Anaesthesist. 2011;60(5):446-450. doi:10.1007/s00101-010-1834-3
Ich bin selber junge Ärztin und meine Cousine hat sich vor zwei Tagen laut der Autopsie mit Natriumnitrit suizidiert. Mit 14 Jahren. Bei meinen Recherchen bin ich auf diese Seite gestoßen. Es ist schmerzlich zu wissen, dass es eine Chance auf Rettung gegeben hätte, aber mir ist auch klar, dass die wenigsten Notärzte das wahrscheinlich wissen und auch nicht überall sofort Methylenblau zur Verfügung steht. Falls es in meiner Laufbahn jemals dazu kommen sollte dass ich dieses Wissen anwenden werden muss ( hoffentlich nicht) weiß ich jetzt was zu tun ist. Danke für diesen informativen Beitrag.