Eine 21-jährige Frau wird von ihrem Mitbewohner auf dem Boden ihres Schlafzimmers liegend bewusstlos aufgefunden. Bei der Patientin besteht eine vorbekannte Epilepsie; sie sei außerdem seit einigen Monaten wegen Depressionen in psychotherapeutischer Behandlung.
Neben der Dame liegt ein Abschiedsbrief, der Mitbewohner findet im Badezimmer etliche leere Blister ihres „Epilepsiemedikaments“. Als die Kollegen vom Rettungsdienst die Patientin in Eurer Notaufnahme abliefern, zeigen sie eine Packung Carbamazepin 400mg ret. Blister mit 50 ausgedrückten Tabletten vor, die sie aus dem Müll gefischt haben.
Wirkstoff
Carbamazepin (CBZ) ist ein häufig verwendetes Antikonvulsivum, welches zur Behandlung von Epilepsien, neuropathischen Schmerzen und der bipolaren Störung1, aber auch in der Alkoholentgiftung2 verwendet wird. Seine Struktur (es ist – für die Nerds – ein Iminostilbenderivat) ähnelt der eines trizyklischen Antidepressivums3.
Carbamazepin entfaltet den größten Teil seiner antikonvulsiven Wirkung durch die Hemmung der Freisetzung von Glutamat und anderen Neurotransmittern durch die Blockade spannungsabhängiger Natriumkanäle im ZNS, es hemmt allerdings auch muskarinerge und nikotinerge Acetylcholinrezeptoren (und ist dementsprechend stark anticholinerg!), NMDA-Rezeptoren und zentralnervöse Adenosinrezeptoren4.
Es besitzt ein Molekulargewicht von 236g/mol und hat ein eher kleines Verteilungsvolumen (0,8-1,4 L/kg); die Plasmaproteinbindung zwischen 70 und 80 Prozent.
Der Metabolismus des lipophilen Carbamazepin erfolgt hauptsächlich über das CYP450-System der Leber, hier unter anderem über CYP3A4 (also cave Interaktionen!), welches es bei Dauergabe bekanntermaßen auch induziert (also ist für einen Carbamazepin-Dauerpatienten auch erst eine vergleichsweise größere Dosis gefährlich!).5 Hieraus folgt bei Einmalgabe eine Halbwertszeit von 25-65 Stunden, während die Halbwertszeit bei Dauergabe auf 12-17 Stunden sinkt.6 Das Plasmamaximum bei Tabletten-Einnahme ist nach 4-6-24 Stunden, bei Intoxikationen durch die Verklumpungstendenz und anticholinerge Wirkung großer Mengen sogar erst nach Tagen zu erwarten.7
Symptome
Aufgrund der Vielfalt seiner Wirkorte löst Carbamazepin bei Intoxikationen eine große Zahl an Symptomen aus. Diese lassen sich grob in neurologische und kardiovaskuläre Befunde unterteilen:
Die neurologischen Symptome stehen im Vordergrund und treten oft zuerst (und auch schon bei sehr geringen Dosen) auf. Hier sind Übelkeit, Schwindel, und Erbrechen zu nennen; weiterhin finden sich aber auch Senkung und Steigerung des Muskeltonus, Ataxien, choreatische Dyskinesien, pupillomotorische Defizite (bis hin zu weiten, für Tage lichtstarren Pupillen) oder ein SIADH mit entsprechenden Symptomen. Schwere Intoxikationen äußern sich in Apnoe, Senkung der Vigilanz bis hin zum Koma oder Krampfanfällen bis hin zum Status epilepticus.4,8
Zu den kardiovaskulären Beschwerden gehören Hypertonie und Hypotonie sowie Herzrhythmusstörungen, welche allerdings erst bei sehr hohen Dosen zu erwarten sind. Die arrythmogene Wirkung lässt sich im EKG feststellen; hier zeigen sich z.B. Verluste der P-Welle, Blockbilder, Schmal- und Breitkomplextachykardien, Extrasystolen und Bradykardie.4–6
Weiterhin finden sich Hyperthermien, Harnverhalt, Hypokaliämie und Hyponatriämie sowie paralytische Ilei. Diese Motilitätsstörungen sind recht typisch für die Carbamazepin-Intoxikation und führen regelmäßig zu einem „verklumpenden“ Verbleib der Tablettenboli im Gastrointestinaltrakt (Bezoar-Bildung) und somit zu einer – oft behandlungswürdigen – protrahierten Resorption des Wirkstoffs.4–6
Generell ist anzumerken, dass die Schwere der Symptome nicht gut mit dem Carbamazepin-Serumspiegel korreliert. Obwohl (bei einem therapeutischen Zielfenster von 4-12 mg/L) normalerweise schwere Symptome erst ab etwa 40mg/L zu erwarten sind6, werden immer wieder (insbesondere bei Kindern und Jugendlichen) schwere Verläufe auch bei weitaus niedrigeren Serumspiegeln beschrieben.4,9 In einer Fallstudie zur deutschen Leitlinie wird für Erwachsene ein toxischer Blutspiegel von 20mg/L (Kinder: 12mg/L) und eine toxische Menge von >20mg/kgKG angegeben.5
Management
Aktuell existiert kein Antidot für Carbamazepin. Die Therapie bei leichter bis mittelschwerer Symptomatik beläuft sich daher auf supportive Maßnahmen. So beschreibt Mühlendahl, dass bei sicheren Aufnahmemengen unterhalb 20mg/kgKG eine häusliche Überwachung mit Wiedervorstellung bei Aggravation ausreichend ist.7
Bei akuterer Symptomatik sind alle erdenklichen Supportivmaßnahmen von Intensivüberwachung der Behandlung von Krampfanfällen mit Benzodiazepinen, der Gabe von Fluidboli bei Hypotonus und der Gabe von Natriumbikarbonat 8,4% bei EKG-Auffälligkeiten (analog der Gabe bei Intoxikationen mit Trizyklischen Antidepressiva) bis hin zur endotrachealer Sicherung des Atemwegs beschrieben.4–6 Hier sind also ein gutes klinisches Auge und Entscheidungen entsprechend der individuellen Klinik gefragt.
Neben den allgemeinen supportiven Maßnahmen werden für Carbamazepin spezifisch folgende Maßnahmen empfohlen:
Auch noch Stunden nach Ingestion wird eine Magenspülung unter Sicht– gemeint ist damit eine Gastroskopie mit gastroskopischer Tablettenbergung- für sinnvoll erachtet. Hierbei soll das Verbleiben verklumpter Tabletten mit der Folge der kontinuierlichen Vergiftung unterbunden werden. Weiterhin wird je nach Zustand des Patienten auch die Gabe von Glaubersalzen und die wiederholte perorale Gabe von Aktivkohle als erwägenswert empfohlen. Besondere Vorsicht ist bei Patienten geboten, bei denen eine perorale Gabe von Medikation nicht empfehlenswert oder zumindest abzuwägen ist (geminderte Schutzreflexe, unsicherer Atemweg usw.).4–6
Für hochakute Verläufe, das heißt Krampfanfälle, Beatmungspflichtigkeit oder kardiale Dekompensation bei supratherapeutischen Serumspiegeln, sind seit mittlerweile über 20 Jahren extrakorporale Verfahren zur Entgiftung in Erprobung. Begonnen wurde hier mit Hämoperfusion über Aktivkohle10, welche unter anderem mit erheblichen Nebenwirkungen wie Thrombo- und Leukopenie einhergingen und daher heute fast keinen Einsatz mehr finden.6,10 Als Alternative gibt es mittlerweile viele dokumentierte Fälle, in welchen erfolgreich künstliche Tauscherharze (z.B. XAD4) verwendet wurden. 3,5,6,11,12
Ein systematisches Review der EXTRIP-Arbeitsgruppe, einer Arbeitsgruppe, die sich mit extrakorporalen Verfahren (ECTR) in der Blutentgiftung befasst, kommt zum Schluss, dass bei hochakuten Verläufen extrakorporale Therapiemethoden zu empfehlen sind (Grad: 2D).6 Die Autoren erläutern, dass zwar keine hochqualitativen Daten zur Senkung von Morbidität durch ECTR zur Verfügung stünden, dass aber ein Effekt aus den Daten zur Mehrfachdosierung von Aktivkohle (MDAC) extrapolierbar sei.
Die Tatsache, dass die Arbeitsgruppe trotz der spärlichen Evidenz ECTR klar befürwortet, begründet sie mit der Tatsache, dass bisher ein Antidot fehlt, dass anekdotale Dokumentation und Grundlagenforschung für ein positives outcome sprechen, und dass Carbamazepin über alle Studien hinweg mindestens „moderately dialysable“ sei; es würde also durch ECTR rasch entfernt.6
Die Empfehlung für ECTR, die auch in Deutschland befürwortet wird,5 gilt für Patienten, die eines der folgenden Kriterien erfüllen:
- Mehrere refraktäre Krampfanfälle (1D)
- Lebensbedrohliche Dysrhythmien (1D)
- Prolongiertes Koma oder Beatmungspflichtigkeit zu erwarten (2D)
- Refraktär hohe Carbamazepin-Serumspiegel trotz Aktivkohle und Supportivtherapie (2D)
Die Autoren empfehlen eine Beendigung der Therapie bei klinischer Verbesserung (1D) und Serumspiegeln unter 10mg/L (2D).
Mittel der Wahl ist intermittierende Hämodialyse (1D; die deutsche Empfehlung sieht einen High-flux-Dialysator vor5), erste Alternative die intermittierende Hämoperfusion (1D) und Drittwahl kontinuierliche Nierenersatztherapie (3D).
Weiterhin sei die wiederholte Aktivkohlegabe (MDAC) auch während des ECTR fortzuführen (1D).6
Auch erfolgreiche Therapieversuche mit Lipidinfusionen wurden beschrieben (Carbamazepin ist hochlipophil), so dass der Einsatz von Lipidinfusionen als Rescue-Strategie zu erwägen ist.13,14
Als grober Anhaltspunkt für die Einschätzung des Risikos und weiteren Managements kann die folgende Einteilung dienen7:
- <20mg/kgKG: allenfalls leichte Symptome zu erwarten; gute häusliche Überwachung, bei deutlichen Symptomen ärztliche Vorstellung
- 20-30mg/kgKG: Stationäre Überwachung und repetitive Kohlegabe, Dauer der Überwachung 6-24 Stunden, je nachdem, ob unretardiertes oder retardiertes Präparat
- >30-40mg/kgKG: schwere Symptome zu erwarten; Gastroskopie zur Tablettenbergung auch noch nach Stunden, wiederholte Kohlegabe (mit Laxans), ggf. retrograde Darmspülung erwägen, Monitorüberwachung, wiederholte Bestimmung von Elektrolyten, Leber- und Nierenfunktion sowie Plasmaspiegel
Zusammenfassung:
- Carbamazepin-Intoxikationen haben viele Gesichter – im Vordergrund stehen neurologische und bei sehr hohen Dosen dann auch kardiovaskuläre Symptome
- Die Entfernung des Wirkstoffs aus der Magen-Darm-Passage mittels Gastroskopie und anschließender wiederholter Kohlegabe ist auch sehr lange nach Ingestion anzustreben
- Cave Interaktionen im CYP450-System!
- Milde Symptomatik / geringe Menge: Wirkstoffentfernung, Aktivkohle, (individualisierte!) Supportivtherapie
- Gravierende Vergiftung: Intermittierende Hämodialyse als Mittel der ersten Wahl der extrakorporalen Blutreinigungsverfahren, Hämoperfusion und kontinuierliche Dialyseverfahren sind Zweit- und Drittwahl
Das Vorgehen stichpunktartig zusammengefasst findet ihr auch als Pocket Card zum Download hier.
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Quellen
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- Diehl A et al. Carbamazepin- Intoxikation bei Kombinationsbehandlung mit Tiaprid zur Alkoholentgiftung. Nervenarzt. 2007;78(1):85-89.
- Li TG et al. Acute carbamazepine poisoning treated with resin hemoperfusion successfully. Am J Emerg Med. 2011;29(5):518-522.
- Spiller HA. Management of carbamazepine overdose. Pediatr Emerg Care. 2001;17(6):452-456.
- Drick N, et al. Erfolgreiche Hämodialyse bei lebensbedrohlicher Carbamazepinintoxikation: Vorstellung neuer Leitlinien anhand eines Fallberichts. Medizinische Klin – Intensivmed und Notfallmedizin. 2015;110(7):551-554.
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- Mühlendahl KE [Hrsg. . Vergiftungen Im Kindesalter. 4th ed. Stuttgart: Thieme; 2003.
- Schmidt S et al. Signs and symptoms of carbamazepine overdose. J Neurol. 1995;242(1):169-173.
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