Vergiftungen mit Cyaniden erfolgen nicht nur in suizidaler Absicht (zum Beispiel mit der klassischen Zyankali-Kapsel, wie man sie aus dem Kino kennt), sondern häufig auch akzidentell durch den Konsum von Bittermandel- oder Aprikosenkernen. Außerdem wird Blausäure inhalativ gut resorbiert und stellt mit Kohlenmonoxid einen typischen toxischen Bestandteil von Rauchgas dar, weshalb sie bei Brandopfern nicht selten zu schwersten bis tödlichen Vergiftungen führt.
Da Cyanide bereits in kleiner Menge tödlich sind und Lebensmittel oder Wasservorkommen relativ einfach zu kontaminieren sind, gab es immer wieder Pläne, Cyanide für terroristische Anschläge mit vielen Betroffenen zu nutzen.1
Pharmakologie / Wirkmechanismus
Cyanide werden oral und inhalativ rasch resorbiert und führen dann zum „inneren Ersticken“ durch Blockade der Zellatmung. Cyanid bindet leicht an dreiwertiges Eisen, welches im Körper in Met-Hb, aber vor allem auch in der Cytochrom-C-Oxidase (oder Komplex 4) der Mitochondrien vorkommt. Hier kommt es zu einer Blockade der Atmungskette durch Hemmung der oxydativen Phosphorylierung mit verminderter oder sogar aufgehobener ATP-Produktion.2
Die Zellen müssen dadurch vom aeroben auf den anaeroben Stoffwechsel umstellen, können viel weniger Energie gewinnen und bilden Laktat als Nebenprodukt.
Dies führt dann je nach Dosierung zu einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Gewebshypoxie und oft zum Tod des Patienten. Zellen mit hohem Energiebedarf und viel aerobem Stoffwechsel, wie sie vor allem im Gehirn, im Herzen und in der Leber vorkommen, sind dabei am stärksten betroffen. Dies sollte man für das Verständnis der Symptome der Cyanid-Vergiftung im Hinterkopf behalten.3
Der menschliche Körper verfügt über verschiedene Mechanismen,
Cyanid abzubauen. Hauptsächlich erfolgt die Entgiftung über das das
Enzym Rhodanase. Dieses Enzym überträgt Schwefel unter Verbrauch von Thiosulfat
an Cyanid, wodurch untoxisches Thiocyanat (auch Rhodanid genannt) entsteht.
Zu einem sehr geringen Anteil entgiftet der Körper auch durch die Bindung von
Cyanid an Hydroxycobalamin, wodurch Vitamin B 12 entsteht.
Die für die Entgiftung entscheidende Umsetzung von Cyanid über die Rhodanase ist allerdings relativ langsam und bei hoher Cyanid-Aufnahmeschnell überlastet, insbesondere, weil dann Schwefel-Donatoren fehlen.3
Die Aufnahme von Cyaniden kann aus vielen Quellen erfolgen. Ein typischer Mechanismus ist die Inhalation von Brandgasen. Nicht nur die Verbrennung von Kunstoffen mit hohem Cyanid-Anteil, sondern auch die Verbrennung von Naturmaterialien wie Holz und Wolle führt (besonders bei schlechter Belüftung) zur Freisetzung von gasförmigem HCN.3
Die Cyanidsalze NaCN und KCN werden oftmals in suizidaler Absicht oral eingenommen und eignen sich durch Kontamination von Wasser oder Lebensmitteln potenziell auch als Biowaffen. Durch die Magensäure werden diese Salze rasch in HCN umgewandelt.1 Die letalen Dosen liegen bei etwa 2-3 mg/kg für Natrium- und Kaliumcyanid und etwa bei 1 mg/kg für Blausäure.4,5
Weitere Quellen für Cyanide sind spezielle Reinigungsmittel (in den USA gab es gar eine ganze Fallserie von suizidalen Intoxikationen mit einem Schmuckreiniger6) oder auch spezielle Lösungen zum Entfernen falscher Fingernägel, die Acetonitril enthalten.7 Außerdem werden Cyanide in diversen industriellen Prozessen (z.B. in Galvanisierbädern4) gebraucht, so dass es bei Unfällen hier ebenfalls zu Vergiftungen kommen kann.8
Des Weiteren enthalten einige Pflanzen cyanogene Glykoside, typische
Quellen sind das Amygdalin in Bittermandeln4 und Aprikosenkernen9, aber auch Kirschlorbeeren
(auch Apfelkerne enthalten cyanogene Glykoside, jedoch nur in so geringer
Menge, dass dies extrem selten toxikologisch relevant wird).4 Weitere Beispiele für
Pflanzen, die cyanogene Glykoside enthalten, sind Maniok7 und Bambussprossen.10
Vergiftungen erfolgen hier aus der Erfahrung des Autors heraus fast immer
akzidentiell, weil entweder Erwachsene oder Kinder nicht um die Problematik
wissen und die verschiedenen Pflanzen nicht korrekt zubereiten oder zu große
Mengen konsumieren.
Ein weiterer typischer Mechanismus ist nach Erfahrung des Autors der durch Heilpraktiker „verordnete“ Konsum von Bittermandelkernen zur alternativen Behandlung von Neoplasien, wenn die Patienten sich aus Versehen oder auch in der Hoffnung, einen besseren Effekt zu erzielen, nicht an die Dosierungsempfehlung halten. Die letalen Dosen für gut gekaute oder zerkleinerte, rohe Bittermandeln liegen etwa bei 10 Bittermandeln für Kinder und 60 Bittermandeln für Erwachsene.4
Die meisten Vergiftungen entstehen sowohl bei Kindern7 als auch bei Erwachsenen5 durch die orale Aufnahme von Cyaniden. In Abhängigkeit von aufgenommener Menge und aufgenommener Form tritt die Wirkung zum Beispiel bei oraler Aufnahme von NaCN oder KCN innerhalb weniger Minuten oder, wenn wie zum Beispiel bei cyanogenen Glykosiden oder Acetonitril-haltigen Reinigern erst durch Stoffwechselprozesse Cyanide frei werden, erst nach mehreren Stunden auf.8
Die inhalative Wirkung entfaltet sich bei hoher Konzentration innerhalb weniger Sekunden und führt primär zur Apnoe.1,3
Symptome
Die Symptome entstehen durch eine Gewebehypoxie und sind je nach Ausprägung der Gewebehypoxie und Schnelligkeit des Wirkeintritts verschieden. Bei langsamem Anfluten kommt es zunächst zu milden Symptomen und Kompensationsmechanismen für die Gewebehypoxie wie Schwindel, Kopfschmerzen und Tachykardie / Tachypnoe, im Verlauf kommt es dann zum Versagen der Kompensationsmechanismen mit „Minussymptomen“ wie Bradykardie und Bewusstseinsstörungen.3 Dabei ähneln die Symptome der CO-Intoxikation und werden in ihrer Gesamtheit auch als asphyktisches Toxidrom bezeichnet.
Im typischen Verlauf kommt es zu Beginn zu leichten Allgemeinsymptomen wie Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit und Müdigkeit sowie zu Tachykardie, Hyperventilation und Luftnot. Im Verlauf kommt es dann zu Bradykardie, Hypotension, weiten Pupillen, Krampfanfällen und Koma und schließlich zum kardiovaskulären Versagen.2
Bei sehr hoher Dosis und raschem Anfluten kann es auch primär zu Koma, Apnoe und kardiovaskulärem Versagen kommen,2 wobei bei inhalativer Aufnahme die Apnoe als erstes aufzutreten scheint.1
Im Lehrbuch immer wieder als typisch beschriebene Symptome wie Bittermandelgeruch oder kirschrote Haut, scheinen nur bei einer Minderheit der Patienten vorzuliegen. Parker-Cote und Kollegen konnten in ihrer Auswertung eine kirschrote Haut nur bei 11 % der Patienten finden, während immerhin 15 % zyanotisch waren. Ein Bittermandelgeruch wurde ebenfalls nur bei wenigen Fällen (etwa 15 %) beschrieben und scheint daher deutlich seltener zu sein, als bisher behauptet. Die häufigsten Symptome waren Nicht-Erweckbarkeit (bei 80 % der Patienten), Atemversagen (bei fast 70 % der Patienten) und Hypotension (bei mehr als 50 % der Patienten).5
Management
Diagnose
Die Verdachtsdiagnose einer Cyanid-Intoxikation muss zunächst klinisch gestellt werden. Wie im vorangegangen Abschnitt geschildert, sind angeblich charakteristische Symptome wie Bittermandelgeruch eher selten und unspezifische Symptome wie Bewusstseinsstörungen und Atemstörungen sehr viel häufiger.5
Leider gibt es bisher keinen marktreifen Schnelltest zum Nachweis von Cyanid im Blut,1 weshalb ein oft erst nach Tagen erhältlicher Cyanidspiegel im Serum eine Intoxikation zwar bestätigen kann, die Behandlung jedoch unbedingt vor Erhalt der Ergebnisse erfolgen muss.8
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Höhe der Konzentration im Serumnicht optimal mit der Symptomatik korreliert, ein Spiegel von etwa 0,2 – 1 mg/l aber mit milden Symptomen einhergeht, während ab etwa 1 mg/l mit moderaten bis schweren Symptomen und ab etwa 3 mg/l mit letaler Wirkung gerechnet werden muss.4
Wenn wir also keinen schnell verfügbaren Test haben und die Diagnose vor allem klinisch stellen müssen, welche Faktoren deuten nun auf eine Cyanid-Intoxikation hin?
Bei Brandgas-Intoxikierten können Exposition zu Brandgasen nach Feuer in umschlossenem Raum, jede Form von Bewusstseinsstörung, kardiovaskuläre Veränderungen, insbesondere eine nicht erklärte Hypotonie, und ein erhöhtes Laktat hinweisend sein.3
Der Cyanid-Spiegel korreliert in manchen Studien mit dem CO-Hb-Level und in manchen nicht, weshalb der leider CO-Hb kein guter Surrogate-Parameter ist.3
Im Gegensatz dazu korreliert die Laktatmenge im Blut sowohl bei Brandopfern als auch anderen Cyanid-Intoxikationen mit dem Cyanid-Spiegel. Daher wird Laktat als Surrogate-Parameter für die Cyanid-Intoxikation verwendet und bei Brandgas-Intoxikierten auch zur Indikationsstellung zur Antidot-Gabe herangezogen. Eine Laktat-Konzentration von 90 mg/dl (10 mmol/l) oder mehr spricht hierbei für einen toxischen Cyanid-Spiegel. 3
Diese Zahlen beruhen jedoch auf sehr kleinen Fallserien11,12 und sollten daher aus unserer Sicht trotz eindeutiger Empfehlungen in der Literatur im Gesamtkontext des Einzelfalls gewertet werden.
Insgesamt ist die Diagnosestellung einer Cyanid-Intoxikation also schwierig. Aufgrund fehlender rasch verfügbarer Testergebnisse muss die Verdachtsdiagnose und Behandlungsindikation klinisch und aufgrund von Surrogat-Parametern gestellt werden. Bei symptomatischen Brandgas-Intoxikierten oder Patienten mit unklarer Bewusstlosigkeit und deutlich erhöhtem Laktat in der BGA sollte eine Cyanid-Intoxikation daher stets als Differentialdiagnose bedacht und gesamten klinischen Kontext ein- oder ausgeschlossen werden.
Therapie und Antidote
Die Behandlung von Cyanid-Intoxikationen beruht auf den Säulen Eigenschutz, supportiver Therapie und Antidotgabe.
Da es Fallberichte von sekundären Intoxikationen durch stark
kontaminierte Kleidung, toxinhaltiges Erbrochenes und sogar die Ausatemluft der
Opfergibt, sollte ein vermehrtes Augenmerk auf den Eigenschutz gelegt
werden, auch wenn das Gesamtrisiko einer Vergiftung von Rettungskräften eher
gering ist. Idealerweise werden doppelte Handschuhe und ein Mundschutz angelegt
und der Patient entkleidet, bei dermaler Exposition oder großer Menge von
Erbrochenem auch die Haut des Patienten (im Erstangriff vielleicht eher kurz
und grob mittels Handtuch) dekontaminiert.8
Es ist hier schwierig, allgemeingültige Empfehlungen zu treffen, weshalb wir an
das eigene Urteilsvermögen appellieren möchten. So werden diese Maßnahmen
werden bei akzidentieller Einnahme nicht hochtoxischer Mengen von z.B.
Aprikosenkernen eher nicht notwendig sein, sollten aber zum Beispiel bei bei Fällen
mit Ingestion von großen Mengen Reinigungsmittel und Reanimationssituation oder
industriellen Unfällen aber nicht vergessen werden.
Die supportive Therapie besteht in der symptomatischen Therapie, wie zum Beispiel hochdosierter Sauerstoffgabe. Krampfanfälle können teils schwer durchbrechbar sein. Eine hyperbare Oxygenierung wird in der Literatur immer wieder diskutiert, ein Nutzen kann aber nur selten nachgewiesen werden und dann meist bei CO-Kointoxikation,3,8 weshalb wir bei reiner Cyanid-Intoxikation hiervon Abstand nehmen würden.
Bei oraler Aufnahme vor unter einer Stunde kann beim wachen, nicht-aspirationsgefährdeten Patienten die Kohlegabe zur Giftelimination sinnvoll sein. Dies ist jedoch eine Einzelfallentscheidung und sollte mit einer Giftzentrale besprochen werden. Ein Gramm Kohle bindet dabei (nur) etwa 35 mg Cyanid.8
Wenig Sinn ergibt die Kohlegabe sicherlich, wenn ein Patient in suizidaler Absicht eine hohe Dosis Zyankali eingenommen hat und bereits reanimationspflichtig ist, da die Kohle hier keinen großen Effekt mehr haben wird. Im Gegensatz dazu kann bei Einnahme von Bittermandelkernen vielleicht bei rechtzeitiger Kohlegabe die Resorption gefährlicher Mengen Cyanid noch verhindert werden.
Die Dialyse ist kein Standardverfahren bei Cyanid-Intoxikationen.8
Es gibt jedoch einige Antidote, die zur Behandlung von Cyanid-Intoxikationen eingesetzt werden können. Hochqualitative vergleichende Studien mit Hinweisen, welches Antidot zu bevorzugen ist, existieren bislang nicht. Der Übersichtlichkeit zu Liebe haben wir die Datenlage zu den Antidoten in einen eigenen Artikel ausgelagert und fassen hier nur kurz die wichtigsten Punkte zusammen:
Es gibt drei Gruppen von Antidoten. Die erste Gruppe sind Met-Hb-Bildner, die das zweiwertige Eisen im Hämoglobin zu dreiwertigem Eisen oxidieren, welches dann Cyanid bindet. Die beiden gängigen Mittel sind Natriumnitrit und 4-Dimethylaminophenol (4-DMAP).
Beide Mittel wirken gut und rasch, haben jedoch aufgrund des dann nicht mehr zum Transport von Sauerstoff zur Verfügung stehenden Met-Hbs (lebensgefährlich bei Antidot-Überdosierung und starker Kohlenmonoxid-Intoxikation) sowie durch sie ausgelöster schwerer Hypotonien ein ungünstiges Sicherheitsprofil.2,3,8
Besondere Vorsicht beim Einsatz von Natriumnitrit und erst recht 4-DMAP ist bei Kindern geboten. Diesen scheinen deutlich anfälliger für eine Met-Hb-Bildung zu sein, da sie u.a. eine reduzierte Aktivität der Met-Hb-Reduktase haben.13
Ein weiteres Antidot ist Natriumthiosulfat. Dieses wirkt als Schwefeldonator und ermöglicht somit die Entgiftung von Cyanid durch die Rhodenase. Natriumthiosulfat hat außer in Fällen einer deutlichen Überdosierung und dem Risiko von milden allgemeinen Reaktionen bei zu schneller Infusion kaum Nebenwirkungen und ist damit sehr sicher. Es wirkt hat jedoch nur sehr langsam und hat eine schlechte Penetranz der Blut-Hirnschranke, weshalb der Einsatz in der Regel nur in Kombination mit einem anderen Antidot empfohlen wird.2,3,8
Das letzte in Deutschland verwendete Antidot ist Hydroxycobalamin, welches Cyanid bindet und hiermit zum untoxischen Cyanocobalamin (kurz: Vitamin B12) reagiert. Hydroxycobalamin ist äußerst sicher, es verursacht allenfalls milde anaphylaktoide Nebenwirkungen und eine rötliche Verfärbung von Schleimhäuten, Haut und Körperflüssigkeiten.
Es wird aufgrund des sehr guten Sicherheitsprofils und der fehlenden Met-Hb-Induktion als Mittel der Wahl bei Brandgas-Intoxikierten empfohlen und soll diesen Patienten bei vermuteter Cyanid-Komponenten und GCS von 10-13 oder ABC-Problem bereits präklinisch verabreicht werden.3 Auch in den USA ist Hydroxycobalamin mittlerweile zugelassen und wird als Mittel der Wahl für jegliche Form der Cyanid-Intoxikation empfohlen. Die Gabe wird sogar beim bewusstlosen Patienten mit vermutetem Suizidversuch und Laktatazidose ohne andere Erklärung empfohlen.2
Neben diesen Antidoten, welche alle zugelassen und verfügbar sind, gibt es auch noch andere Antidote wie zum Beispiel Dicobaltedetat, welches jedoch in Deutschand unseres Wissens nach nicht verfügbar und außerdem toxisch ist, wenn doch keine Cyanid-Intoxikation vorliegt.14
Weitere neuere Antidote mit einfacher Applikation werden recht intensiv beforscht, da Cyanid-Intoxikationen, ob akzidentell oder mit terroristischem Motiv insbesondere über verseuchtes Essen oder Wasser schnell zu einer hohen Zahl an Betroffenen und einem MANV führen könnenund hier keines der bisherigen Antidote optimal erscheint.1
Welches Antidot würden wir empfehlen?
Antidot der Wahl ist für uns Hydroxycobalamin. Die Daten zur Wirksamkeit sind zwar insgesamt von schlechter Qualität, jedoch (insbesondere was Brandgas-Intoxikationen betrifft) gleichwertig mit oder sogar besser als die Daten für die anderen Antidote. Zudem hat es außer rötlicher Verfärbung der Körperflüssigkeiten und seltenen anaphylaktoiden Reaktionen keine Nebenwirkungen und ist somit sehr sicher. Es kann also auch im Verdachtsfall angewendet werden.
Die alleinige Gabe von Natrium-Thiosulfat mag bei milden bis moderaten Vergiftungen möglicherweise ausreichend sein (beruhend auf Fallberichten), reicht aber bei schweren Vergiftungen alleine sicher nicht aus. Ob die Kombination von Hydroxycobalamin und Natriumthiosulfat einen Vorteil bringt, ist unklar. Da beide Wirkstoffe sehr sicher sind, spricht aus unserer Sicht jedoch nichts gegen die Kombination.
Wichtig ist jedoch, die beiden Substanzen nicht über den gleichen Zugang und generell nicht zeitgleich zu geben, da sie sonst ausfällen und sich gegenseitig unwirksam machen.
Natriumnitrit würden wir nur verwenden, wenn es sich bei der Cyanid-Intoxikation nicht um eine Rauchgas-Intoxikation handelt und Hydroxycobalamin (z.B. wegen Lieferschwierigkeiten) nicht verfügbar oder die Gabe unpraktikabel ist (z.B. IV-Gabe bei MANV-Lage).
Zum Abschluss folgt nun noch eine Auflistung der Antidote und ihrer Dosierung.
Antidot-Dosierung:
- Hydroxycobalamin: (für uns Mittel der Wahl)
5 g (2 Ampullen à 2.5 g in je 100 ml NaCl 0.9 %) über 15 Minuten intravenös bzw. 70 mg/kg für Kinder
Einmalgabe ist meist ausreichend, ggf. erneute einmalig erneute Gabe von 5 g bei erhöhtem Laktat bei Übernahme im Krankenhaus und prähospitaler Gabe, oder falls 2 Stunden nach erster Gabe nicht normwertigem Laktat3
bei Periarrest-Situation oder Reanimation direkte Gabe von 10 g
Sehr hohe Sicherheit - Na-Thiosulfat 25 %
50 ml (12.5 g) über 30 Minuten intravenös, bzw. 412 mg/kg (maximal aber 12.5 g bei Kindern), ggf. halbe Dosis nach 30 Minuten erneut2
Immer über Extra-Zugang um Ausfällen zu verhindern2,4
IM-Gabe im Tiermodell wahrscheinlich sicher und effektiv, also bei MANV überlegen15 - Natrium-Nitrit 3 %
10 ml (300 mg) über 5 Minuten IV, bzw. 5.8-11.6 mg/kg bei Kindern bis max. 300 mg (bei Anämie weniger, bei normalem Hb mehr)
Falls nötig, halbe Dosis nach 30 Minuten erneut geben 2
Met-Hb-Bildner, Vasodilatation und Hypotension, nicht bei Brandgasintox
IM-Gabe im Tiermodell wahrscheinlich sicher und effektiv, also bei MANV überlegen15
Zusammenfassung
- Cyanid-Vergiftungen entstehen inhalativ durch Aufnahme von Rauchgasen, oral/dermal durch Aufnahme von Kaliumcyanid/Natriumcyanid, anderen Cyanid-Verbindungen in Reinigern und Industrie oder oral durch die Einnahme von Pflanzenteilen, welche cyanogene Glykoside enthalten
- Cyanide blockieren die Zellatmung und führen zum anaeroben Stoffwechsel mit Laktatazidose
- Schnell verfügbare Cyanid-Verbindungen können direkt zu einer massiven Symptomatik mit Koma und Atem- sowie Kreislaufversagen und Tod führen, während es bei langsamer Anflutung zunächst zu milden Symptomen kommt
- Bei vermuteter Cyanid-Intoxikation sollte vermehrt auf den Eigenschutz geachtet werden und ggf. eine kurze Dekontamination des Patienten erfolgen
- Antidot der Wahl ist aus unserer Sicht Hydroxycobalamin (Cyanokit®). Natrumnitrit und 4-DMAP sollten bei Rauchgasintoxikation (insbesondere bei unbekanntem CO-Hb-Anteil) nicht verwendet werden
- Hydroxycobalamin und Na-Thiosulfat dürfen nie zusammen über die gleiche Leitung oder den gleichen Zugang gegeben werden, da diese dann ausfällen
- Kommt es bereits vor Hydroxycobalamin-Gabe zu einer Reanimationssituation, ist die Überlebensrate deutlich schlechter
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Quellen
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