Paracetamol Teil 3 – Trends

Nachdem einige Daten nun endlich veröffentlicht wurden, möchten wir euch im dritten Artikel über Paracetamol-Vergiftungen die aktuellen Entwicklungen auf diesem Gebiet vorstellen. Wohl auf keinem Gebiet der Toxikologie wird aktuell so viel geforscht wie in der Behandlung der – sehr häufigen – Intoxikationen mit Acetaminophen.

Die aktuelle therapeutische Strategie mit Gabe von ACC nach einem starren Schema bei Überschreiten eines gewissen Paracetamol-Spiegels bringt nämlich einige Nachteile mit sich:

Zum einen weiß man, dass nicht jeder Patient mit einem Paracetamol-Spiegel oberhalb der Behandlungslinie im Rumack-Matthew-Normogramm eine Hepatotoxizität entwickelt und daher viele Patienten behandelt werden, obwohl dies eigentlich nicht notwendig wäre.
Zum anderen ist der Einnahmezeitpunkt oft nicht klar oder es fanden mehrere Einnahmen statt und das Normogramm wird damit unanwendbar. Um dieses Problem zu umgehen, wird intensiv nach besseren Prädiktoren für eine Hepatotoxizität als den Serumspiegel gesucht.
Wir möchten euch hier den aktuellen Stand darlegen.

Weiterhin erscheint das klassische ACC-Schema selbst optimierungsfähig. Hier erhält nämlich jeder Patient ein starres Dosisregime, ungeachtet des jeweiligen Alters, der Größe oder der eingenommenen Menge an Paracetamol. Dabei kommt es mit diesem klassischen Therapieschema aus drei aufeinander folgenden Infusionen aufgrund der recht hohen Dosierung in der ersten Infusion immer wieder zu Nebenwirkungen. Diese sind besonders häufig, wenn der Paracetamol-Spiegel niedrig und somit das Risiko einer Hepatotoxizität gering ist.1
Neben dem Ansatz, die Risikopatienten mit neuen Biomarkern besser zu identifizieren, gibt es daher auch den Ansatz, die Gabe von ACC zu optimieren und alternative ACC-Schema einzuführen, in denen nur zwei Beutel verabreicht werden. Die aktuellen Studien hierzu möchten wir euch ebenfalls vorstellen.

Zuletzt fällt immer wieder auf, dass Patienten nach Einnahme sehr hoher Paracetamolmengen trotz früh (< 8 Stunden nach Einnahme) begonnenem IV-ACC-Schema eine Hepatotoxizität entwickeln. Bei einem Spiegel < 300 mg/L liegt das Risiko unter 4 % für eine Hepatotoxizität, bei sehr hohen Spiegeln von > 500 mg/L entwickelt jedoch fast jeder dritte Patient vorübergehende ALT-Erhöhungen über 1000 IU/l trotz rechtzeitigem Therapiebeginn.2 Diese Patienten scheinen mit dem aktuellen ACC-Schema also nicht ausreichend behandelt zu werden. Auch hierzu möchten wir euch die aktuell diskutierten modifizierten und neuen Therapieansätze präsentieren.

Marker für zu erwartende Hepatotoxizität

Während die ALT ein sehr guter Marker für einen Paracetamol-induzierten Leberschaden ist, werden erhöhte Werte leider erst viele Stunden nach Einnahme der Medikamente festgestellt, wenn bereits ein Leberschaden eingetreten ist.

Verschiedene Grundlagenarbeiten, auf die wir hier nicht näher eingehen wollen, haben die MicroRNA-122 (miR-122), High Mobility Group Box-1 (HMGB1), Keratin-18 (K18) und Glutamat Dehydrogenase (GLDH) als in vitro gut mit einem Leberversagen korrelierte Marker identifiziert.3,4 Mit den immer einfacher und billiger werdenden Nachweismethoden konnten im Folgenden dann besonders für die Marker miR-122, HMGB1 und K18, aber auch die Kombination mehrere Micro-RNAS in ersten kleinen Arbeiten vielversprechende in-vivo-Ergebnisse für die Prädiktion eines folgenden Leberschadens bei Patienten mit Paracetamol-Intoxikationen gefunden werden.5,6

Anschließend wurde bei einer Kohorte von knapp 1.000 Patienten anhand dieser Biomarker bei Paracetamol-Intoxikierten ein Vorhersagemodell für auch schon milde auftretende Leberschäden entwickelt und dann an fast 200 weiteren Patienten evaluiert.
Die einzelnen Marker miR-122, HMGB1 und K18 zeigten hier in der Blutentnahme bei Vorstellung negative prädiktive Werte um 99%. Allerdings lagen die positiv prädiktiven Werte nur um ca. 50 %. Mit der Kombination aller drei Marker konnten dann immerhin 77-98 % aller Patienten, die ein Leberversagen entwickelten, und 99 % aller Patienten, die keines entwickelten, korrekt identifiziert werden.7
Die Arbeitsgruppe um Dear sammelt zu diesem Modell auch noch weitere Daten, welche auf dem EUSEM-Kongress 2018 in Glasgow kurz vorgestellt wurden und konsistent zu sein schienen, bisher aber nicht veröffentlicht wurden.

Insgesamt scheint die Entwicklung und Validierung neuer Marker zur Vorhersage von Leberschäden rasch voran zu schreiten und in absehbarer Zeit auch im Klinikalltag umsetzbar zu sein. Auch wenn die vorgestellten Marker sicher noch nicht perfekt sind, wird ihr baldiger klinischer Einsatz vor allem vom Fortschritt bei der Entwicklung noch billigerer und einfacherer Nachweisverfahren für diese Marker abhängen.

Modifizierte 2-Beutel ACC-Schemata

Da das klassische ACC-Schema mit seinen aufeinanderfolgenden Infusionen in der Anwendung kompliziert ist und es Hinweise gibt, dass insbesondere die hohen ACC-Dosen in der ersten Infusion (hier wird 50% der gesamten ACC-Dosis verabreicht) eine erhöhte Nebenwirkungsrate hervorrufen könnten, wurden alternative Regime vorgeschlagen.
Shen und Kollegen führten 2011 in einem simulierten Modell vor, dass mit einem 2-Beutel-Regime mit niedrigerer initialer Dosis wahrscheinlich eine gleich gute Wirkung bei niedrigeren Nebenwirkungen erreicht werden kann.8

Bateman und Kollegen veröffentlichten 2014 immerhin im Lancet eine randomisierte, kontrollierte Studie, in der sie ein neues 2-Beutel-Regime (100 mg/kg über 2 Stunden, 200 mg/kg über 10 Stunden), das „SNAP Regime“, mit dem konventionellen ACC-Schema verglichen und deutlich weniger, insbesondere weniger anaphylaktoide, Nebenwirkungen fanden.9 Ob das kürzere Regime auch gleich effektiv ist, konnte die Studie aufgrund mangelnder Power jedoch nicht zeigen. Die Autoren hatten ursprünglich eine entsprechend große Studie auflegen wollen, konnten hierfür jedoch keine Finanzierung finden. Zu beachten ist auch, dass das SNAP-Regime nach 12 Stunden nur beendet und Patienten für möglicherweise entlassbar gesehen wurden, wenn sich ein normalisierter Paracetamol-Spiegel und unauffällige Leberwerte zeigten.

Eine Beobachtungsstudie mit über 3.000 Patienten, die kürzlich veröffentlicht wurde, konnte beim Vergleich des SNAP-Regimes mit dem klassischen 3-Beutel-Schema (jeweils knapp 1500 Patienten) keine Unterschiede in der Effektivität finden, aber die deutlich niedrigere Nebenwirkungsrate bestätigen.10 Auch wenn dies nur eine Beobachtungsstudie ist, legen diese Ergebnisse für das SNAP-Regime eine gleiche Effektivität bei besserer Sicherheit gegenüber dem konventionellen ACC-Schema nahe.

Wong und Kollegen verabreichten in einer Beobachtungsstudie ein alternatives 2-Beutel-Regime mit 200 mg/kg ACC über 4 Stunden und anschließend 100 mg/kg über 16 Stunden und fanden ebenfalls weniger anaphylaktoide Reaktionen als in einer gematchten historischen Vergleichskohorte. Unterschiede in der Effektivität zeigten sich hier ebenfalls nicht, allerdings ist auch diese Studie nicht ausreichend gepowert, um diese zu identifizieren.11

McNulty fand 2015 in einer retrospektiven Analyse von 476 in Sydney behandelten Patienten (163 Patienten mit dem 2-Beutel-Regime, 313 Patienten mit dem klassischen 3-Beutel-Regime) ebenfalls deutlich weniger anaphylaktoide Reaktionen ohne Hinweise auf eine schlechtere Wirksamkeit.12
Ebenfalls eine deutliche Reduktion der anaphylaktoiden Ereignisse konnten Schmidt und Kollegen in Dänemark in einer retrospektiven Analyse mit Vergleich des klassischen Regimes mit dem auch von Wong verwendeten 2-Beutel-Regime finden. Effektivitätsunterschiede zwischen den Regimen ließen sich hier ebenfalls nicht nachweisen.13
Im August 2019 veröffentlichten Wong und Kollegen noch eine Cluster-kontrollierte Studie, in der sie an 100 Patienten untersuchten, ob ein vorzeitiger Stopp ihres 2-Beutel-Regimes (200 mg/kg ACC über 4 Stunden und anschließend 100 mg/kg über 16 Stunden) nach 12 Stunden, wenn zu diesem Zeitpunkt die ALT < 2fach erhöht war und der Paracetamol-Spiegel < 20 mg/L lag, sicher möglich ist. Hier zeigten sich keine Unterschiede zwischen der Gruppe mit dem vorzeitigen Stopp des Schemas nach 12 Stunden und den Patienten, die dieses über die vollen 20 Stunden erhielten. Aufgrund der kleinen Patientenzahl können diese Daten jedoch nur als Grundlage für größere Studien dienen.14

Allen zitierten Studien ist gemein, dass die Rate an anaphylaktoiden Reaktionen mit den 2-Beutel-Regimen um 5 % liegt, egal welches der beiden verschiedenen 2-Beutel-Verfahren verwendet wurde. Ob die neuen 2-Beutel-Regime auch die gleiche Effektivität wie das klassische ACC-Schema mit 3 Infusionslösungen haben, konnten die Studien aufgrund mangelnder Größe oder nicht ausreichender Methodik aus unserer Sicht noch nicht hinreichend sicher belegen. Zumindest zeigt sich jedoch konsistent in allen Studien kein Hinweis hierauf und für das SNAP-Regime liegen mittlerweile Daten von über 1500 Patienten vor.

Während das SNAP-Schema von Bateman und Kollegen auch innerhalb von 12 Stunden verabreicht wird und somit eine schnellere Entlassung ermöglichen würde (und es auch an der größten Kohorte evaluiert wurde), erreichen die 2-Beutel-Regimes mit Gabe über 20 Stunden die gleiche ACC-Dosis wie das klassische 3-Beutel-Schema bei deutlich weniger Nebenwirkungen, bringen aber keinen Zeitvorteil.

Künftige klinische Studien müssen jetzt noch eine gleiche Effektivität der 2-Beutel-Regimes sicher belegen und vor allem darlegen, bis zu welcher Paracetamol-Dosis die 2-Beutel-Regimes, insbesondere das SNAP-Regime über nur 12-Stunden, angewendet werden können.

Modifizierte ACC-Schemata bei hoher Paracetamol-Dosis2

Patienten, die sehr große Mengen Paracetamol eingenommen haben, entwickeln trotz rechtzeitiger Behandlung mit dem klassischen ACC-Schema nicht selten deutlich erhöhte Leberwerte mit einer Peak-ALT > 1000 IU/l. Bei einem Paracetamol-Spiegel < 300 mg/L vier Stunden nach der Einnahme liegt das Risiko unterhalb von 4 % für eine solche Hepatotoxizität, bei sehr hohen Spiegeln von > 500 mg/L entwickelt jedoch fast jeder dritte Patient vorübergehende ALT-Erhöhungen über 1000 IU/l.

Dies ist leicht zu erklären, da beim klassischen ACC-Schema zwar initial eine sehr hohe ACC-Dosis verabreicht wird (150mg/kg oder 50 % der Gesamtdosis in der ersten Stunden), die ACC-Erhaltungsdosis im dritten Beutel des intravenösen ACC-Schemas aber auf Basis der Einnahme von „nur“ 16 g Paracetamol beim 60-kg-Patienten kalkuliert wurde.

Daher wird in der Literatur diskutiert, die ACC-Dosis entsprechend der eingenommenen Paracetamol-Dosis zu erhöhen und entweder ACC über einen längeren Zeitraum zu verabreichen oder im letzten Beutel des Schemas höhere Dosen ACC zu verwenden. Hendrickson und Kollegen empfehlen hier aufgrund von Rechenmodellen ab einem Paracetamol-Spiegel von 300 mg/L vier Stunden nach der Einnahme ab dem dritten Beutel des ACC-Schemas eine Dosis 12,5 mg ACC/kgKG/h, ab einem Spiegel von 450 mg/L 18,75 mg ACC/kgKG/h und ab 600 mg/L 25 mg ACC/kgKG/h.2

Diese Empfehlung ist bisher jedoch noch nicht in klinischen Studien untersucht worden. In den nächsten Jahren werden hierzu hoffentlich bessere Daten veröffentlicht werden, die uns einen Hinweis geben, ob wir lieber länger, lieber mehr oder sogar mehr und länger ACC bei einer hohen Paracetamol-Dosis geben sollten.
Bis dahin sollte die ACC-Gabe zumindest nicht beendet werden, bis der Paracetamol-Spiegel sich normalisiert hat (< 20 mg/L) und die Leberwerte ebenfalls nicht mehr deutlich erhöht sind (ALT < 2x Normwert).2

Neue Medikamente in der Behandlung der Paracetamol-Intoxikation

Calmangafodipir ist ein Superoxid-Dismutase-Mimetik und kann die Mitochondrien so in der oxidativen Phase der Paracetamol-Intoxikation möglicherweise vor Schaden bewahren. Dies ist insofern interessant, als dass die Sicherheit des Wirkstoffes bereits bei Patienten, die Calmangafodipir zur Prophylaxe einer Chemotherapeutika-assoziierten Neuropathie erhielten, gezeigt wurde und Calmangafodipir nach theoretischen Überlegungen bei der Paracetamol-Intoxikation auch noch Schaden verhindern kann, wenn ACC hierzu nicht mehr in der Lage wäre.

Eine open-label Phase-1 Studie mit 24 Patienten konnte nun erste Daten zur Sicherheit von Calmangafodipir in Kombination mit ACC und Hinweise für eine mögliche Wirksamkeit bei Patienten mit Paracetamol-Intoxikation vorlegen.15

Weitere und größere Studie werden in den nächsten Jahren die Effektivität und Sicherheit von Calmangafodipir zur Behandlung der Paracetamol-Intoxikation klären müssen, aufgrund theoretischer Überlegungen scheint der Ansatz aber vielversprechend.

Quellen

1. Schmidt LE. Identification of patients at risk of anaphylactoid reactions to N-acetylcysteine in the treatment of paracetamol overdose. Clinical Toxicology. 2013;51(6):467-472.

2. Hendrickson RG. What is the most appropriate dose of N-acetylcysteine after massive acetaminophen overdose? Clinical Toxicology. 2019;57(8):686-691.

3. Antoine DJ, Williams DP, Kipar A, et al. High-Mobility Group Box-1 Protein and Keratin-18, Circulating Serum Proteins Informative of Acetaminophen-Induced Necrosis and Apoptosis In Vivo. Toxicol Sci. 2009;112(2):521-531.

4. Wang K, Zhang S, Marzolf B, et al. Circulating microRNAs, potential biomarkers for drug-induced liver injury. Proc Natl Acad Sci USA. 2009;106(11):4402-4407.

5. Antoine DJ, Dear JW, Lewis PS, et al. Mechanistic biomarkers provide early and sensitive detection of acetaminophen-induced acute liver injury at first presentation to hospital. Hepatology. 2013;58(2):777-787.

6. Vliegenthart ADB, Shaffer JM, Clarke JI, et al. Comprehensive microRNA profiling in acetaminophen toxicity identifies novel circulating biomarkers for human liver and kidney injury. Sci Rep. 2015;5:15501.

7. Dear JW, Clarke JI, Francis B, et al. Risk stratification after paracetamol overdose using mechanistic biomarkers: results from two prospective cohort studies. The Lancet Gastroenterology & Hepatology. 2018;3(2):104-113.

8. Shen F, Coulter CV, Isbister GK, Duffull SB. A dosing regimen for immediate N-acetylcysteine treatment for acute paracetamol overdose. Clinical Toxicology. 2011;49(7):643-647.

9. Bateman DN, Dear JW, Thanacoody HKR, et al. Reduction of adverse effects from intravenous acetylcysteine treatment for paracetamol poisoning: a randomised controlled trial. The Lancet. 2014;383(9918):697-704.

10. Pettie JM, Caparrotta TM, Hunter RW, et al. Safety and Efficacy of the SNAP 12-hour Acetylcysteine Regimen for the Treatment of Paracetamol Overdose. EClinicalMedicine. 2019;11:11-17.

11. Wong A, Benedict NJ, Armahizer MJ, Kane-Gill SL. Evaluation of adjunctive ketamine to benzodiazepines for management of alcohol withdrawal syndrome. Ann Pharmacother. 2015;49(1):14-19.

12. McNulty R, Lim JME, Chandru P, Gunja N. Fewer adverse effects with a modified two-bag acetylcysteine protocol in paracetamol overdose. Clinical Toxicology. 2018;56(7):618-621.

13. Schmidt LE, Rasmussen DN, Petersen TS, et al. Fewer adverse effects associated with a modified two-bag intravenous acetylcysteine protocol compared to traditional three-bag regimen in paracetamol overdose. Clinical Toxicology. 2018;56(11):1128-1134.

14. Wong A, McNulty R, Taylor D, et al. The NACSTOP Trial: A Multicenter, Cluster-Controlled Trial of Early Cessation of Acetylcysteine in Acetaminophen Overdose. Hepatology. 2019;69(2):774-784.

15. Morrison EE, Oatey K, Gallagher B, et al. Principal results of a randomised open label exploratory, safety and tolerability study with calmangafodipir in patients treated with a 12 h regimen of N-acetylcysteine for paracetamol overdose (POP trial). EBioMedicine. 2019;46:423-430.

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