Tödliche Intoxikationen

Häufig werden wir gefragt, welche Vergiftungen eigentlich tödlich verlaufen. Um dieser Frage nachzugehen, ziehen wir den Schuh einmal anders herum auf und analysieren die Charakteristika tödlicher Vergiftungen. Aus Deutschland gibt es hierzu keine zentralen aufschlussreichen Daten, im Jahresbericht der amerikanischen Giftinformationszentralen wird man jedoch fündig. Im Folgenden schauen wir uns den Jahresbericht aus dem Jahr 2019 im Hinblick auf tödlich verlaufende Vergiftungen einmal genauer an und berichten euch unsere Interpretation der Zahlen.1

Wir beziehen uns dabei, soweit dies aufgeschlüsselt war, nur auf die Fälle, bei denen die Intoxikation als ursächlich, wahrscheinlich ursächlich oder beitragend zum Tod gewertet wurde und der Giftzentrale direkt mitgeteilt wurden (n = 1 411). Teils lagen diese Daten aber nur für auch indirekt (z.B. über Medien oder Gerichtsmediziner) berichtete Todesfälle vor (n= 2 048), wobei hier von einer schlechteren Datenqualität ausgegangen werden muss.
In den Fällen, wo nur Daten für alle Todesfälle (egal ob „mit“ oder „an“ Vergiftung) analysierten wir diese (n=2 619). Um den Lesefluss nicht durch die dauernde Erklärung, auf welchen Daten die jeweilige Aussage beruht zu stören, haben wir die Bezugsgröße und damit die verwendete Kohorte entweder kurz in der jeweiligen Überschrift erwähnt oder hinter den Prozentzahlen angegeben, so dass jeder nachvollziehen kann, auf welcher der drei Kohorten die Aussagen beruhen.
Wichtig ist auch, dass wir methodisch bedingt nur Korrelationen, aber keine Kausalitäten darstellen können.

Der Artikel hat mit vielen Zahlen einen gehörigen Nerdfaktor – wer nur die Schlussfolgerungen interessant findet, kann auch nur die kursiven Abschnitte des Textes lesen.

Altersverteilung (n= 1411)

Bei 2.148.141 dargestellten Fällen aus dem Jahr 2019 wurden 1.411 direkt den amerikanischen Behörden berichteten Todesfälle kausal auf Vergiftungen zurückgeführt. Dabei waren nur zwei Todesfälle (0,1 % aller Todesfälle) bei Kindern unter einem Lebensjahr zu verzeichnen. 11 Kinder im Alter von ein bis fünf Jahren verstarben, was 0,8 % der Todesfälle ausmachte.
Weitere 0,9 % der Todesfälle traten bei Kindern im Alter von 6-12 Jahren auf, während 5,2 % der Todesfälle Teenager im Alter von 13 bis 19 betraf. Den Dekaden von 20-29 Jahren (usw.) bis 60-69 Jahren konnten jeweils 13-17 % der Todesfälle zugeordnet werden, während ältere Patienten über 70 Jahre wieder einen geringeren Anteil an den Todesfällen ausmachten.

Insgesamt zeigen sich also Todesfälle bei Intoxikationen vor allem bei Erwachsenen. Kinder und Kleinkinder sind nur in Ausnahmefällen von tödlichen Vergiftungen betroffen: Obwohl die Altersgruppe von Kindern unter 6 Jahren mehr als 46 % der analysierten Vergiftungen ausmachte, betraf nur 0,9 % (13/1 411) der resultierenden Todesfälle diese Altersgruppe.

Unabsichtliche oder absichtliche Gifteinnahme (n= 1 411)

Spannend ist auch die Frage, ob die Gifteinnahme bei tödlichen Vergiftungen meistens absichtlich (zum Beispiel bei einem Suizid) oder unabsichtlich erfolgt (zum Beispiel durch Unfälle).

Die Ergebnisse sind hier wenig überraschend: Bis zum Alter von fünf Jahren waren alle Todesfälle Folge einer unabsichtlichen Vergiftung. In der Altersgruppe von 6-12 Jahren gab es nur eine absichtliche Vergiftung (vermuteter Suizid). Ab dem Teenager-Alter überwiegt dann aber die Zahl der absichtlichen Gifteinnahme bei tödlichen Vergiftungen. 86 % der Todesfälle der 13-19-Jährigen waren intentional, nur 7 % erfolgten unabsichtlich.

Bei Menschen über 19 Jahre waren 75 % der Todesfälle auf absichtliche Vergiftungen und 9 % auf unabsichtliche Vergiftungen zurückzuführen. Beim großen Rest bleibt die Absichtlichkeit unklar.

Betrachtet man im Vergleich dazu sämtliche, auch nicht-tödliche, Vergiftungen erfolgten insgesamt 77 % ohne Absicht und 19 % absichtlich, wobei in 13 % eine suizidale Motivation vermutet wurde.

Absichtliche Vergiftungen sind also insgesamt seltener als unabsichtliche Vergiftungen, bei den tödlichen Vergiftungen machen sie jedoch ab dem Teenager-Alter den Großteil der Fälle aus. Trotzdem war bei jeder zehnten tödlichen Vergiftung eines Erwachsenen die Giftaufnahme unabsichtlich erfolgt.

Route (n= 1 411 Patienten und 1 531 Expositionswege)

Die Aufnahme des Giftes war bei Todesfällen, die auf die Vergiftung zurückgeführt wurden, recht ähnlich verteilt wie in der Gesamtgruppe der Vergifteten. In einigen Fällen wurde mehr als ein Expositionsweg (z.B. oral und intravenös) beobachtet.
Bei den Verstorbenen wurde das Gift zu 74 % oral (vs. 79 % bei allen Vergifteten) und 7,5 % inhalativ (vs. 6,4 % in der Kohorte aller Vergifteten) aufgenommen. Auffällig ist, dass die parenterale Applikation in 5 % viel häufiger bei Verstorbenen als in der Gesamtgruppe der Vergifteten war (hier nur 0,9 %), wobei der Anteil an dermaler Exposition mit 0,8 % sehr viel geringer war als mit 6,8 % in der Gesamtpopulation.

Bei tödlichen Vergiftungen wird das Gift also meist oral zugeführt. Weitere häufigere Aufnahmewege sind inhalativ und parenteral. Die dermale Resorption ist hingegen nur bei weniger als einer von hundert tödlichen Vergiftungen zu finden. Eine Kombination mehrerer Aufnahmewege (z.B. oral und inhalativ) ist möglich.

Substanzen

Kommen wir nun zu den häufig vorgefundenen Substanzen bei tödlicher Vergiftung:

Als erstes fällt dabei auf, dass mehr als die Hälfte der Fälle, bei denen der Tod auf die Vergiftung zurückgeführt wurde, Mischintoxikationen waren. Nur in 46 % (650/1411) der Fälle lag eine Intoxikation mit einer einzelnen Substanz vor. In fast jedem vierten Fall wurden zwei Substanzen, in mehr als jedem achten Fall sogar drei und mehr als jedem zehnten Fall vier oder mehr Substanzen eingenommen.

Mischintoxikationen sind also auch bei tödlichen Vergiftungen wirklich häufig und man sollte mit der Einnahme von mehr als einer Substanz rechnen!

Bei den Erwachsenen, bei denen die Vergiftung als verantwortlich für den Tod gewertet wurde, war eine der die Vergiftung auslösenden Substanzen zu 81 % (1668/2048) ein Medikament oder eine Droge. Dabei war die Verteilung, der als führend für den Tod verantwortlich gesehenen Substanzen wie folgt:

In 37 % (751/2048) der Fälle war (ggf. unter anderem) ein Analgetikum eingenommen worden. Häufig waren dabei typisch für Amerika Opioide (v.a. Fentanyl [8 %, 166 Fälle] und Heroin [7 %, 150 Fälle]), Paracetamol (8 %, 164 Fälle), Salizylate (1,5%, 32 Fälle), andere Opioide wie Oxycodon (26 Fälle), Methadon (16 Fälle) oder Tramal (12 Fälle) sowie Kombinationspräparate.

In 11 % (225/2048) der Fälle wurden kardiovaskuläre Medikamente als primär auslösend gewertet. Am häufigsten war hier mit 3,2 % und 66 Fällen Amlodipin. Aber auch andere Calcium-Kanal-Blocker wie Diltiazem (23 Fälle) und Verapamil (20 Fälle) sowie die Beta-Blocker Metoprolol (23 Fälle) und Propranolol (13 Fälle) waren typische Medikamente, die bei tödlicher Vergiftung eingenommen worden waren.

Rekreationale Drogen waren in 9 % (187/2048) der auf eine Vergiftung zurückgeführten Todesfälle als ursächlich gewertet worden, allen voran Metamphetamine (5 %, 102 Fälle) und Kokain (2,1 %, 43 Fälle). MDMA war mit nur sechs Fällen bei tödlicher Vergiftung sehr selten vertreten.

In 5,7 % der Todesfälle waren Antidepressiva ursächlich. Häufige Substanzen waren dabei Bupropion (2,3 %, 47 Fälle), Amitriptylin (0,9 %, 19 Fälle) und Venlafaxin (13 Fälle).
Nur 2,8 % (60/2048) der Todesfälle wurden primär auf Sedativa bzw. Antipsychotika zurückgeführt. Häufigstes Medikament war in 16 Fällen (0,7%) Quetiapin, aber auch Alprazolam war mit 13 Fällen recht häufig. Clonazepam und Zolpidem mit je 4 Fällen gehörten zu den schon selteneren Auslösern.

Analgetika mit Opioiden und Paracetamol, kardiovaskulär wirksame Medikamente mit Calcium-Kanalblockern und Beta-Blockern und rekreationale Drogen mit Metamphetaminen und Kokain waren also die am häufigsten konsumierten Substanzgruppen, Antidepressiva und Sedativa waren hingegen seltener als führend für den Tod verantwortlich gewertete Substanzen.

Tabelle 1: Häufigkeit von führend für den Tod verantwortlich gewerteter Substanzen

SubstanzFälleAnteil an allen Todesfällen
Fentanyl1668 %
Paracetamol1648 %
Heroin1507 %
Metamphetamin1025 %
Amlodipin663,2 %
Bupropion472,3 %
Kokain432,1 %
Salizylate321,5 %
Oxycodon261,3 %
Diltiazem231,1 %
Metoprolol231,1 %
Verapamil201,0 %
Amitriptylin190,9 %
Methadon160,8 %
Quetiapin160,7 %
Tramadol120,6 %
Propranolol130,6 %
Venlafaxin130,6 %
Alprazolam130,6 %

Spannend ist auch eine Gegenüberstellung häufiger Substanzen bei tödlichen Vergiftungen mit deren Häufigkeit bei Monointoxikation: Sedativa oder Antipsychotika wurden so zum Beispiel in 22 % der Fälle (305/1411) verhältnismäßig häufig konsumiert. Auffällig ist jedoch, dass diese nur in 2,8 % der Todesfälle als führend gewertet wurden. Auch wurden sie nur in 2 % (13/650) der tödlichen Monointoxikationen konsumiert.

Sedativa und Antipsychotika scheinen also bei tödlicher Vergiftung in den USA nur sehr selten allein, sondern meist im Rahmen einer Mischintoxikation konsumiert zu werden. Zudem könnte man hier spekulieren, dass Sedativa und Antipsychotika bei Mischintoxikation oft nicht das zum Tode führende Problem verursachen.

Paracetamol hingegen wird in zwar in 198 von 1 411 tödlichen Fällen konsumiert, davon jedoch in 91 Fällen als einzige Substanz.

Paracetamol war also in 46 % der Fälle eine Monointoxikation und damit nach diversen Gasen die Substanz, die den häufigsten Anteil an Monointoxikationen hatte.

Auffällig ist auch, dass irgendein Alkohol in 16 % (232/1411) der Fälle konsumiert wurde und bei immerhin 5 % (32/650) der Fälle mit Monointoxikation die einzige konsumierte und damit vermutlich auch todesursächliche Substanz war.

Zusammengefasst wurden in mehr als der Hälfte der tödlichen Vergiftungen mehrere Substanzen eingenommen. Medikamente gehörten zu den am häufigsten eingenommenen Substanzen bei tödlichen Vergiftungen, gefolgt von Drogen.
Immerhin in 36 % der Fälle waren Analgetika (führend Opioide inkl. Heroin und Paracetamol, aber auch Salizylsäure) und in 11 % kardiovaskuläre Substanzen (führend Kalziumkanalblocker Amlodipin, Verapamil, Diltiazem; aber auch Betablocker wie Metoprolol und Propranolol sowie Digoxin) eingenommen und als führend für den Tod verantwortlich gewertet worden. Todesfälle nach Konsum von Metamphetamin oder auch Kokain waren ebenfalls häufig, während die Einnahme von Antidepressiva eher selten für den Tod verantwortlich gemacht wurde. Sedativa wurden zwar häufig konsumiert, scheinen aber ebenfalls nur in Ausnahmefällen für den Tod ursächlich zu sein.

Nebenbei: Die eingenommenen Substanzen bei verstorbenen Kindern im Alter bis 5 Jahre waren breit gestreut. Unter anderem neben Gasen (führend Kohlenmonoxid) häufiger und auch als Monosubstanz häufig waren Analgetika, Batterien, Kohlenwasserstoffe und Tabak/E-Zigaretten. Weitere Substanzen waren Antihistaminika, Anästhetika und Erkältungspräparate. Wer näheres Interesse an den Mechanismen und dem Management der klassischen für Kinder lebensgefährlichen Medikamente und Substanzen hat, sei auf unsere entsprechenden Artikel verwiesen.

Sonstiges

Interessant ist auch, dass 41 % (840/2048), der auf Vergiftungen zurückgeführten Todesfälle auf akute Vergiftungen, 20 % auf akut auf chronische Vergiftungen und immerhin 7 % auf chronische Vergiftungen zurückgeführt wurden. Welche Substanzgruppen sich dahinter verbergen, wurde jedoch nicht aufgeschlüsselt.

Auffällig ist auch, dass der Anteil der vermuteten Suizide mit 35 % der 2 619 Toten seit Jahren sinkt (vs. z.B. 53% im Jahr 1985), während der Anteil der Todesfälle der Gesamtheit aller Vergiftungen steigt (0,036 % der Fälle im Jahr 1985 und 0,122 % im Jahr 2019), was bei meist absichtlichem Konsum auf einen steigenden Anteil von Drogentoten in den USA hinweisen könnte.

Zusammenfassung

Auch wenn sich die Daten aus Amerika nicht 1:1 nach Deutschland übertragen lassen, da dort insbesondere mehr Opioide konsumiert werden, können dennoch Hinweise auf die Charekteristika tödlicher Vergiftungen hieraus abgeleitet werden:

  • Kleinkinder <6 Jahre verursachen einen Großteil der Beratungen in amerikanischen Giftzentralen, führen aber nur zu einem minimalen Anteil (0,9%) der Todesfälle.
  • Die eingenommenen Substanzen bei Todesfällen im Zusammenhang mit Vergiftungen von Kleinkindern sind breit gestreut und fallen unter die in den Artikel One Pill Kill und Lethal Spoonful of Poison vorgestellten Gruppen
  • Die meisten Todesfälle im Zusammenhang mit Vergiftungen zeigen sich bei Erwachsenen, die das Gift meist (75%) absichtlich zu sich nahmen, aber immerhin geschahen tödliche Vergiftungen auch in fast jedem zehnten Fall unabsichtlich
  • Dabei erfolgt die Einnahme meist oral, ebenfalls recht häufig auch inhalativ und/oder parenteral
  • Mischintoxikationen lagen in > 50 % der Fälle vor
  • Die am häufigsten eingenommenen und als kausal gewerteten Substanzen waren Medikamente und Drogen
    • ~ 36 % Analgetika (Opioide inkl. Heroin, Paracetamol, Salizylate)
    • ~ 11 % kardiovaskulär wirksame Substanzen (führend Kalziumkanalblocker wie Amlodipin, Verapamil und Diltiazem; aber auch Metoprolol und Digoxin)
    • ~ 9 % Drogen (exklusive Heroin, v.a. Metamphetamin und Kokain)
    • ~ 6 % Antidepressiva (v.a. Bupropion und TCA wie Amitripylin, aber auch Venlafaxin)
    • ~ 3 % Sedativa und Antipsychotika (v.a. Quetiapin und Alprazolam)
  • Alkohole waren bei 5 % der Monointoxikationen die konsumierte und damit vermutlich auch ursächliche Substanz, tödliche Intoxikationen mit Kohlenmonoxid scheinen ebenfalls nicht selten zu sein
  • Sedativa wurden häufig in Kombination eingenommen und schienen eher nicht kausal für den Tod zu sein, während Paracetamol in fast der Hälfte der tödlichen Vergiftungsfälle als Monosubstanz konsumiert wurde

Quellen

1. Gummin DD, Mowry JB, Beuhler MC, et al. 2019 Annual Report of the American Association of Poison Control Centers’ National Poison Data System (NPDS): 37th Annual Report. Clinical Toxicology. 2020;58(12):1360-1541. doi:10.1080/15563650.2020.1834219

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